In der Neuen Zürcher Zeitung von gestern findet sich ein hoch interessanter Artikel zur Verschleierungsdebatte, der die rechts- und sozialphilosophischen Hintergründe dieser in vielerlei Hinsicht verqueren Diskussion auszuleuchten versucht. Uwe Justus Wenzel setzt pointiert und gewohnt umsichtig eine Stellungnahme der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum aus der New York Times ins Verhältnis zu einem den Entwurf des Verschleierungsverbotes begleitenden Berichts („rapport d’information“) der französischen Nationalversammlung. Wie Wenzel deutlich macht, sind hier unterschiedliche Voraussetzungen und Hintergrundannahmen im Spiel.

Nussbaum argumentiert kraftvoll von der philosophischen Grundidee eines liberalen Staatswesens her. Der Staat hat sich in Fragen des religiösen Gewissens wie auch in Hinblick auch auf andere Unterschiede rassischer, ethnischer oder geschlechtlicher Art „differenzblind“ zu verhalten. Will sagen: er soll im Namen der Freiheit und Gleichheit seiner Bürger keinerlei Wertvorstellungen (z.B. christliche) bevorzugen. Nussbaum geht noch einen Schritt weiter: Da in demokratischen Gemeinwesen die Lebensform der Mehrheit und die in ihr eingelagerten Normerwartungen dominiert, soll der Staat religiösen Minderheiten kleine Anpassungen (accomodations) gewähren, sobald wesentliche Belange ihres religiösen Bekenntnisses betroffen sind. (So konnte beispielsweise eine Anhängerin der Aventisten, der gekündigt wurde, weil sie am Samstag aufgrund ihres Bekenntnisses nicht arbeiten wollte, Arbeitslosengeld beanspruchen, obwohl sie durch ihre Weigerung die Kündigung selbst verursacht hatte. Nussbaum bezieht sich hier auf den konkreten Fall der Adell Sherbert, die vom höchsten Gerichtshof das Recht zugesprochen bekam, den Feiertag ihrem religiösen Bekenntnis gemäss ausüben zu können.) Wie Nussbaum betont, hat das Akkomodations-Prinzip in der amerikanischen Rechtskultur Tradition.

Natürlich hat auch ein solches Entgegenkommen der Gemeinschaft seine Grenzen. Praktiken und Überzeugungen, die gewichtige Interessen des Staates (wie Sicherheit, Einhaltung der Grundrechte etc.) gefährden, können nicht auf solche Entlastung von der Bürde des Gesetzes hoffen. Die Frage ist natürlich, ob das Tragen eines Ganzkörperschleiers (Burka) legitimer Ausdruck eines solchen Rechts ist, dem eigenen religiösen Bekenntnis nach zu leben oder nicht. (Natürlich liesse sich dieselbe Frage in Hinblick auf den Bau von Minaretten diskutieren.) Nussbaum prüft fünf geläufige Argumente, die von Burkagegnern vorgebracht werden, und gelangt zu einem deutlichen Ja. Alle Einwände der Burkagegner, so das Fazit der Chicagoer Philosophin, erweisen sich als nicht stichhaltig und verletzen  das Prinzip der Gleichheit und der Freiheit.

Es ist offensichtlich, dass  in dieser Betrachtungsweise eine US-Amerikanische Optik dominiert. Das liberalistische Selbstverständnis der Vereinigten Staaten als Vielvölkerstaat und  Einwanderungsland sowie die darauf reagierenden Bestimmungen der founding fathers bilden den historischen Hintergrund dieser politisch-philosophischen Beurteilung. Auf der anderen Seite des Atlantiks herrschen den unterschiedlichen historischen Erfahrungen entsprechend andere Traditionen und sie nährende Intuitionen. Wie Wenzel scharfsichtig hervorhebt, gelangt hier neben den bei Nussbaum vorherrschenden Prinzipien der liberté und égalité noch ein dritter Gesichtspunkt ins Spiel: die fraternité. Mit dieser Vorstellung von „Brüderlichkeit“, kommen nun Werte ins Spiel, die den gelebten sozialen Umgang betreffen: Begriffe wie Empathie, Gegenseitigkeit oder Dialog zeigen an, dass die Grenze der politischen Philosophie in Richtung Sozialphilosophie überschritten wurde. Das Expertengremium jedenfalls, das den Informationsbericht zur Gesetzesvorlage „interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public“ verfasst hat, sieht in der Burka die Keimzelle einer offenen, transparenten und solidarischen Gemeinschaft bedroht: die Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Der Bericht findet hierfür starke Worte:

Se cacher le visage derrière un voile intégral n’est pas un vêtement comme un autre : son port marque une rupture du pacte social, un refus d’intégration et un refus du dialogue et de la démocratie car cette pratique heurte une tradition profondément ancrée en Occident où il n’y a pas de vêtement du visage. Confronté à un autre totalement impersonnel, celui qui reste à visage découvert dans sa vulnérabilité se sent agressé et cette manière de refuser tout dialogue avec autrui rend impossible toute vie sociale et toute empathie interpersonnelle. Cette absence délibérée de contact avec autrui ruine toute fraternité et empathie avec autrui.

Es ist eine eigentümliche Kehrtwendung, die sich hier vollzieht. Wird das Tragen der Burka gelegentlich mit dem Argument vertreten, dass sie die Trägerin vor zudringlichen Blicken schütze, so scheinen hier die Rollen von Aggressor und Objekt vertauscht. Es ist gerade der unverschleierte Bürger, der sich nun als Opfer einer durch den Schleier erzeugten Verweigerung von Gegenseitigkeit erfährt. Indem der Schleier, wie es heisst, „jeglichen Dialog“ mit dem anderen verunmöglicht und „jegliche Brüderlichkeit und Empathie mit dem anderen“ ruininiert, wird er zum Vehikel und Medium einer schlechthin asozialen Gesinnung.

Cette attitude est synonyme de rejet, de négation, d’exclusion, de repli, de fermeture, de refus de l’autre.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche radikale Verweigerungs-Haltung nicht mehr mit der Nachsicht der Toleranten rechnen darf. Darum schliesst der Absatz:

Il n’y a ici pas de transaction possible.

Wenzel ist sichtlich darum bemüht, den Absolutismus und das Pathos dieser Formulierungen mit Ironie zu ventilieren, um gleichzeitig das herauszuschälen, was er für den argumentativen Kern dieser Position hält. Ein Ausflug in die Sozialphilosophie Jean-Paul Sartres und die Ethik von Emmanuel Levinas liefern ihm dafür Stichworte. Doch wirken diese Hinweise etwas zerstreut und gerade im Kontext des gereizten, „allergischen“ Tones  des Rapportes wenig überzeugend. Sowohl bei Sartre als auch bei Levinas liessen sich Argumente für eine Kritik der Entschleierungsfanatiker mobilisieren. Unter anderem die Einsicht, dass sich der Andere, der sich als Blick resp. als Appell manifestiert, niemals in eine auf Gegenseitigkeit und Gleichheit gegründetes Einvernehmen hereinholen lässt. Die Ausgesetztheit an den Anderen, in der sich meine Subjektivität erst bildet, lässt sich nicht mit einem „bonjour réciproque“ – wie Levinas es einmal formuliert – beruhigen. Es ist also nicht ganz klar, worin eine „wohlwollende“ Interpretation des französischen Verschleierungsverbotes bestehen könnte.

Trotzdem scheint mir mit dem sozialphilosophischen Hinweis auf die direkte Begegnung von Angesicht zu Angesicht ein ganz zentraler Punkt in der Verschleierungs-Debatte benannt zu sein. Allerdings müsste zunächst erläutert werden, wie der Blickwechsel sich in jedem Fall (auch unter Nicht-Burka-Trägerinnen) als eine prekäre Balance von Exponiertheit, Bezogenheit und Entzug aufbaut, die von den Teilnehmern je von neuem ausgehalten werden muss. In der Begegnung face to face mit anderen sind wir also mit der Herausforderung konfrontiert, die drei Momente in eine stets vorläufige und störanfällige Balance zu bringen. Vor diesem Hintergrund erst wird es möglich, individuelle Pathologien (wie z.B. die Dismorphophobie) als Scheitern an dieser Anforderung bzw. bestimmte kulturelle Praktiken (wie z.B. apotropäische Praktiken gegen den bösen Blick, Schamregimes) als Entlastung von dieser komplexen Anforderung zu rekonstruieren.

www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/der_blick_der_anderen_1.6716017.html
opinionator.blogs.nytimes.com/2010/07/11/veiled-threats/
opinionator.blogs.nytimes.com/2010/07/15/beyond-the-veil-a-response/

www.assemblee-nationale.fr/13/dossiers/dissimulation_visage_espace_public.asp#dissimulation_visage