Neulich wiedergesehen: Vivement Dimanche! von François Truffaut (1983). Ein seltsamer Film. Vieles zugleich und nichts wirklich, eignet sich der letzte Film von Truffaut kaum für das, was man gerne ein filmisches „Vermächtnis“ nennt. Ein Unterhaltungsfilm in der Tradition des „film noir“ ist er gewiss, doch wird das wiederum durch die deutliche Stilisierung (schwarz-weiss im Jahr 1983) und die zahlreichen Anspielungen aufgewogen, die den Film genremässig in eine eigentümliche Schwebe versetzen. Ein simpler „polar“, wie die Franzosen die Kriminalfilme nennen, eine Liebesgeschichte, ein ironisches B-Movie, ein Film-Film für Cinéasten – Truffaut lockt uns auf verschiedene Spuren. „Le roi s’amuse“ heisst das Theaterstück von Victor Hugo, das die Protagonistin Barbara Becker (Fanny Ardant) neben ihrer detektivischen Spurensuche mit einer Laientheatertruppe probt, und vielleicht sollte man das so verstehen: Der König (hier: Truffaut) beliebt zu scherzen.

Gleichwohl hat der Film einen interessanten plot. Dass er nicht auf den ersten Blick sichtbar wird, hängt an dem hohen Tempo Filmes und einigen geschickten Knalleffekten, mit denen Truffaut seine streckenweise fadenscheinige Geschichte garniert hat. Dieser plot liegt in dem verwickelten Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten Julien Vercel (Jean-Louis Trintignant) und seiner Sekretärin Barbara Becker (hinreissend: Fanny Ardant). Vercel ist des mehrfachen Mordes verdächtigt und wird von der Polizei gesucht. Seine Sekretärin, die offensichtlich in ihn verliebt ist und von seiner Unschuld überzeugt, hält ihn in einem Hinterraum der Immobilienagentur versteckt. Sie stellt selbst Erkundungen an und berichtet dem durch die Umstände „gefangenen“ Vercel von ihren Ergebnissen. Zwischen den beiden bahnt sich zögerlich eine Liebesgeschichte an, die sich über zahlreiche Verwicklungen und Missverständnisse hinweg am Ende des Filmes in die obligate Hochzeit auflöst.

Zu Beginn des Filmes sieht es jedoch noch gar nicht danach aus. Vercel kündigt seiner Sekretärin, nachdem sich seine Frau am Telefon einmal mehr über deren Unverschämtheit beschwert. Die Ehefrau ist zwar sehr schnell einmal tot, doch bleibt das Verhältnis zwischen Vercel und Becker angespannt kühl. Truffaut setzt nun die Annäherung der beiden mit einer ebenso einfachen wie genialen Bildidee in Szene. Er charakterisiert das Begehren von Vercel mit seiner Faszination für ein erleuchtetes Kellerfenster, durch das man undeutlich die Beine der vorübergehenden Frauen sieht. Wie in einer platonischen Höhle sitzt Vercel zur Untätigkeit verdammt in seinem Keller und lässt sich durch die vorübergehenden Schatten faszinieren.

Es ist kaum zu übersehen, dass Vercels Begehren, das durch die Lichtspiele am Kellerfenster gerahmt wird, Ähnlichkeiten mit dem cinéphilen Begehren hat. Die Lust am schönen Schein, die Erregung durch das flimmernde Licht, ist auch die Lust des Kinobesuchers in der Tiefe seines selbstgewählten Dunkels. Auch Vercel nimmt Platz, bezieht eine Position gegenüber der Erscheinung, um sich seiner (durch die Zigarette verkörperten) Lust hinzugeben. Deutlicher als die Augenlust des Zuschauers aber ist dieses Begehren durch seine Objekte als ein erotisches ausgezeichnet: es sind die schönen Beine der vorübergehenden Frauen, die – gebrochen durch die Unebenheiten der Drahtverglasung – Vercels Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Truffaut zeigt uns das Begehren Vercels also als das Begehren nach etwas anderem. „La chose c’est essentiellement l’autre-chose“ heisst es dazu bei Lacan. „Autre“ ist der Gegenstand dieses Begehren deshalb, weil Vercel ständig von seiner betörenden Sekretärin umschwärmt wird und dafür – anders als der Zuschauer im Kino – keine Augen zu haben scheint. Der zunächst widersinnig erscheinende Grund dafür ist, dass er von dieser „zuviel“ sieht. Was die durch das Kellerfenster aufleuchtenden Bilder leisten ist, dass sie nicht alles zeigen und dieses wenige noch dazu verzerrt. Es lässt sich also vorzüglich phantasieren über das, was auf der anderen Seite des Fensters vor sich geht.

Auch Barbara realisiert nach einer gewissen Weile diesen Zusammenhang. Sie entfernt sich und passiert – einem Impuls des Augenblicks folgend – das Kellerfenster zweimal von aussen. Damit ist sie nun, topisch gesprochen, am richtigen Ort in Erscheinung getreten. Sie ist im Rahmen von Vercels Begehren sichtbar geworden.

„Les jambes de Barbara“ – so die Kapitelüberschrift der Szene – haben nun die Aufmerksamkeit von Vercel auf sich gezogen. Allerdings weiss Vercel davon noch nichts. Es ist also für Barbara an der Zeit, selbst sichtbar zu werden. Sie tut dies, indem sie sich Vercel gegenüber „erklärt“, ihm eine kleine Szene macht. Diese Liebeserklärung, in der sie ihm vorwirft, Frauen nur als Gebilde aus falschen Nägeln, falschen Wimpern und falschen blonden Haaren wahrzunehmen, diese Liebeserklärung hat jedoch einen Haken. Indem sie sich nun als (liebende) Person zu erkennen gibt, verbleibt sie gewissermassen im Raster von Vercels Begehren. Sie wird „sichtbar“, indem sie sich den Koordinaten seines Begehrens unterwirft. Die Liebesszene, mit der diese Sequenz endet, steht deshalb unter einem Vorbehalt.

Dieser Vorbehalt wird im folgenden deutlich, wenn Barbara sagt, dass sie Eile (frz. hâte) oder Scham (frz. honte) empfinde, dass sie froh sei, wenn es endlich Sonntag sei. Der Grund dafür ist, dass Barbara Vercel bereits bei der Polizei denunziert hat, die tatsächlich kurz darauf in den Keller eindringt und Vercel verhaftet. Was zunächst jedoch wie ein simpler Verrat aussieht, erweist sich am Ende als ein subtiles Manöver. Barbara ist deutlich geworden, dass sie Vercel nicht bekommen wird, wenn sie sich darauf beschränkt, auf der Bühne seines imaginären Theaters eine Rolle zu spielen, wenn sie sich darum bemüht, seinen Blick (regard) einzufagen. (Tatsächlich steigt sie an einem bestimmten Punkt in der Geschichte aus der Laienschauspieltruppe aus.) Wenn sie tatsächlich als ein Gegenüber in Erscheinung treten will, muss sie sich darum bemühen, die gesamte intersubjektive Konstellation zu erschüttern. Sie tut dies, indem sie nun Vercel selbst aus seiner Unsichtbarkeit herausholt und ihn den Ansprüchen anderer aussetzt. Erst nachdem Vercel begriffen hat, dass er es mit einem selbständigen Gegenüber, einem Gegenüber mit einem eigenen Begehren, zu tun hat, kann er sich selbst als Gegenstand dieses Begehrens erfassen. Dann erst ist – dieser Logik zufolge – Sonntag. Und Filme enden bekanntlich hier.