Einer Arbeit von Robert Montgomery bin ich erstmals auf der diesjährigen SCOPE Art Show in Basel begegnet. Der Name war mir bis dahin unbekannt. Das schlichte Holzgerüst mit den darauf montierten LED-Lettern stand gleich am Anfang der Ausstellung. THE PEOPLE YOU LOVE BECOME GHOSTS INSIDE OF YOU AND LIKE THIS YOU KEEP THEM ALIVE lautete die Botschaft. Der Satz – und die Stimmung, die er erzeugte – hat mich durch die ganze Ausstellung begleitet. Und darüber hinaus: Er ist inzwischen selbst zu einer Art „Gespenst“ geworden.

Dabei ist unklar, worin der Reiz des Satzes genau liegt. Er liefert eine poetische Umschreibung dafür, dass Menschen, die wir lieben, nicht bloss auf das Leben beschränkt sind, das sie unabhängig von uns in der Welt führen. Sie führen zusätzlich noch eine inneres, sagen wir: psychisches Leben in uns. Dieses andere Leben entwickelt zuweilen ein unheimliches Eigenleben. Wir können von geliebten Menschen „heimgesucht“ werden, wenn ihre „Träger“ weit weg sind. Und umgekehrt kann der „ghost“ sich verflüchtigen, wenn wir ihnen direkt gegenübertreten.

Auch die Installation verbreitet nicht unbedingt die Aura des Geheimnisvollen: ein schlichtes Holzgerüst, auf dem entlang von Querzeilen grosse Buchstaben angebracht sind. Betrachtet man die Installation von der Seite wird sichtbar, wie die einzelnen Dioden miteinander verkabelt sind. Eine nüchterne, technisch zweckmässige Konstruktion – nichts sonst. Von fern eine Assoziation zu amerikanischen Werbetafeln der 50er Jahre, jedenfalls so, wie man sie aus den Filmen dieser Zeit kennt.

Und dennoch: Wer der Installation gegenübertritt, wird sich kaum dem sanften Zauber entziehen können, die das Werk auf den Betrachter ausübt. Die einzelnen Lichtpunkte der Dioden verbreiten ein sanftes und zugleich punktförmig helles Licht, das die Botschaft mal mehr, mal weniger kontrastvoll von der Umgebung abhebt. Die Lichtdioden werden durch Solarzellen gespeist, wodurch je nach Sonneneinstrahlung die Licht-Intensität der Dioden variiert. Das ist besonders reizvoll, wenn die Installation im Freien aufgestellt ist und Text, Kunstlicht und Tageslicht auf vielfältige Weise miteinander interagieren. Mit von der Sonne geliehenem Licht schreibt Montgomery seine Botschaften in den verdämmernden Nachthimmel. Auf seiner Website hat der Künstler diese Arbeit mit anderen ähnlichen Arbeiten unter dem Titel „recycled sunlight pieces“ zusammengefasst

Montgomery sieht sich selbst IN A POETIC AND MELANCHOLIC POST-SITUATIONIST TRADITION. Das trifft den Punkt. Und zwar gleich in doppelter Hinsicht. Es beschreibt einerseits sehr gut die Stimmung, die von den Arbeiten Montgomerys ausgeht. Sie sind poetisch, melancholisch, post. Der Hinweis auf die Situationistische Internationale andererseits verortet den „Lettrismus“ Montgomerys historisch und politisch ziemlich präzise. Wie von den Situationisten gefordert agiert auch die Kunst Montgomerys im öffentlichen Raum . Sie erzeugt bzw. verwendet vorgefundene Situationen, indem sie mit irritierenden, verfremdenden Texten in die politische, soziale und ästhetische Ökonomie unserer Wahrnehmung eingreift. Dabei ist die Stossrichtung dieser Eingriffe niemals politisch allein (im Sinne einer Anleitung zum Handeln). Sie ist vielmehr poetisch. Ihr Ziel ist es, mittels einer provokanten Ästhetisierung das Individuum aus einem dem Diktat der Nützlichkeit und der Zweckmässigkeit unterworfenen Leben herauszulösen.

Das lässt sich sehr gut an einer anderen Gruppe von Arbeiten zeigen, die Montgomery „billboard pieces“ nennt. Es sind dies Guerilla-Aktionen, mit denen Montgomery, der in seinem Erwerbsleben als Associate Publisher des Lifestyle-Magazins „Dazed & Confused“ arbeitet, öffentliche Werbeflächen mit seinen Botschaften besetzt und im Sinne von Guy Debords „détournement“ wendet. Die Texte, mit denen Montgomery die Leuchtkästen und Werbeflächen überklebt, konfrontieren den Passanten auf verschiedene Weise mit derselben, eindringlichen Frage. Was machst du hier eigentlich? Was wird aus deinem Leben? Aus deinen Wünschen? Was wird aus deinen Träumen? Dass diese Fragen an der Stelle auftauchen, wo unser Leben und unsere Wünsche im grossen Stil bewirtschaftet werden – den öffentlichen Werbeflächen – ist die stille Ironie dieser Interventionen. Auch diese Arbeiten folgen einer parasitären Logik: die Botschaften werden sichtbar durch den Kontrast zu den darunterliegenden beleuchteten oder helleren Flächen und sie fallen ins Auge, weil sie die durch das Versprechen von Augenlust formatierten Zonen unserer Aufmerksamkeit bevölkern. Auch diese Werke arbeiten in diesem Sinne mit geborgtem Licht.

Die Plakataktion THE SPECTACLE OF ADVERTISING ist ein gelungenes Beispiel für ein solche Entwendung einer öffentlichen Werbe-Botschaft. Sie lautet im Volltext: THE SPECTACLE OF ADVERTISING CREATES IMAGES OF FALSE BEAUTY SO SUAVE AND SO IMPOSSIBLE TO ATTAIN THAT YOU WILL HURT INSIDE AND NEVER EVEN KNOW WHERE THE HURT COMES FROM, AND IN ALL PICTURES NOW THE FAMOUS PEOPLE HAVE ALREADY BEGUN TO LOOK LOST AND LONELY

Die in weissen Lettern auf schwarzem Grund gesetzte Botschaft entzieht sich der gängigen Aufmerksamkeits-Ökonomie von Werbeplakaten. Sie lässt sich nicht auf einen Blick erfassen, die schlichte Buchstabenwand würde jedem Werbegrafiker den Auftrag kosten. Sie zwingt den Passanten in die Position des Lesers, gebieterisch fordert sie Zeit und Aufmerksamkeit von ihm, was immer heisst: Lebenszeit. Die Zurücknahme auf blossen Text, die Bild-Askese, wird hier im Kontrast zu den geläufigen Werbestrategien zu einer widerständigen Praxis.

Im Gegenzug bekommt der Leser jedoch auch etwas zurück. Einen Moment des Innehaltens, der Reflexion, des Lächelns vielleicht – einen Augenblick, der dem gleichförmigen Vergehen der Zeit enthoben ist. Was machst du hier? scheint das Plakat zu fragen. Warum schaust du hierher? Was machen die Bilder vom Glück anderer Leute mit uns? Mit wenigen Zeilen gelingt es Montgomery, das tiefe Unbehagen unseres glanzlosen Lebens nicht nur zu artikulieren, sondern auch noch gegen ihre Verursacher zu wenden. Ist es nicht so, so scheint das Plakat zu fragen, dass man den glücklichen Menschen im Weltformat dieses Unwohlsein selbst ansieht, gegen das sie aufgeboten wurden? Der namenlose Schmerz, die Leere, die wir mit uns herumtragen, bekommen dadurch ein Gesicht. Es sind die Berühmtheiten und Schönheiten selbst, die – wir reiben uns die Augen – bereits begonnen haben, uns verloren und einsam zu erscheinen.

Mit sicherer Hand träufelt uns Montgomerys Plakataktionen Gift ins Ohr, das Gift der Poesie. Es ist als hätte sich „das süsse Gift des freien Lebens“, wie der ungarische Schriftsteller und Ästhetiker Bela Balasz es einmal ausgedrückt hat, in unser Blut gemischt. Und wer von diesem „Opium der Schönheit“ gekostet hat, der ist – zumindest für einen kurzen Moment – für ein zeitgemässes Leben verloren: „Der wird nie mehr arbeiten können.“

Der Existenzialismus Montgomerys ist keiner des Seins. Er zielt nicht auf letzte menschliche Gegebenheiten, die es heroisch zu tragen oder revoltierend zu bekämpfen gilt. Die subtilen Botschaften zielen vielmehr auf individuellen, gelebten Sinn, auf Intimität im Sinne Batailles oder Raoul Vaneigems, einem weitere Situationisten, der in seinem „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“ von 1967 schreibt:

„Die Liebe ist niemals von einem gewissen heimlichen Widerstand abgerückt, den man Intimität getauft hat. Sie wurde von dem Begriff des Privatlebens geschützt, aus dem hellen Tag vertrieben (der der Arbeit und dem Konsum vorbehalten ist) und in die verborgenen Winkel der Nacht, in das gedämpfte Licht verdrängt. Auf diese Weise ist sie der großen Integrierung der Aktivitäten des Tages entgangen.“

So verstanden sind alle Arbeiten Montgomerys verstörende Botschaften der Liebe.

http://www.robertmontgomery.org