Der Erfolg der sozialen Netzwerke scheint auch die Sozialwissenschaften zu inspirieren. James H. Fowler und Nicolas A. Christakis, zwei renommierte amerikanische Sozialwissenschaftler, stellen in ihrem Buch Connected. The amazing Power of Social Networks and how they shape our lives (2009) die Behauptung auf, dass sich Eigenschaften, Verhaltensweisen und Überzeugungen über soziale Netzwerke ausbreiten. So erhöht etwa die Tatsache, einen übergewichtigen Freund zu haben, die Wahrscheinlichkeit auch für mich, an Gewicht zuzulegen. Dieser Zusammenhang einer wechselseitigen Beeinflussung wird jedoch nicht nur für meinen Freund, sondern interessanterweise auch für den Freund meines Freundes geltend gemacht. So soll es möglich sein, dass sich zwei Menschen Eigenschaften weitergeben, die sich persönlich gar nicht kennen. Noch dazu über Vermittlung eines Dritten, der gegenüber der weitergegebenen Eigenschaft auch noch immun sein kann.

Was uns aus unserem alltäglichen Umgang mit Gefühlen vertraut ist (und was die Emotionsforschung bestätigt hat), wird nun auch für das Körpergewicht, politische Ansichten, Rückenschmerzen oder bestimmte Sexualpraktiken (so weitere Beispiele der Autoren) behauptet: sie sind ansteckend. Dass die beiden Wissenschaftler für die Beschreibung dieses Zusammenhangs auf eine epidemiologische Metapher zurückgreifen, ist nicht zufällig. Es macht deutlich, dass die Ausbreitung nicht von der Zustimmung oder Ablehnung der Protagonisten abhängig ist, sondern sich „hinter dem Rücken“ derselben vollzieht: sie geschieht weitgehend unbewusst. Die Knoten des Netzwerkes, die sozialen Akteure, sind in dieser viralen Betrachtungsweise lediglich „Wirte“, derer sich das Virus bedient, um sich weiter auszubreiten.

Als Mechanismus der Ausbreitung machen die Autoren eine Art von Normalisierungseffekt in der Peer-Gruppe verantwortlich. Wenn beispielsweise Maria, die Freundin von Elaine, an Gewicht zunimmt und Elaine sich ihrem veränderten Körperumfang gegenüber tolerant zeigt, verändert diese Haltung auch Elaines Auffassung davon, was ein normales Körpergewicht ist. Wenn nun eine andere Freundin Elaines, Heather, mit Sport aufhört und ebenfalls dicker wird, wird Elaine sie aufgrund ihrer veränderten Normauffassung nicht dazu ermuntern, ihr Training wieder aufzunehmen. Das sind interessante Überlegungen, auch wenn sie eine ganze Reihe von Fragen offen lassen. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass dieser Normalisierungseffekt zustandekommt? Geht von jeder Veränderung eine solche transformierende Kraft aus oder nur von bestimmten (diskursiv ausgezeichneten)? Und inwiefern spielt hier die Qualität der sozialen Beziehung eine Rolle (signifikante Andere vs. unqualifizierte Andere)?

Ungeachtet der negativen Assoziationen, die die epidemiologische Analyse von sozialen Netzwerken (sowie einige von den Autoren zitierte Beispiele) freisetzen, ziehen die Autoren aus ihren Beobachtungen ein unerwartet positives Fazit. Zum einen: Positive Zustände verbreiten sich schneller als negative, da die „links“ zu negativen Knotenpunkten (Sauertöpfen, Melancholikern, Depressiven etc.) schnell einmal gekappt werden. Zum anderen: Das Wissen über die Funktionsweise von sozialen Netzwerken kann uns helfen, uns dem möglicherweise schädlichen Einfluss derselben zu entziehen oder nochmals positiv ausgedrückt: deren positiven Einfluss zu optimieren. Wer weiss, wie sich schlechte Laune über mehrere Stationen hinweg verbreitet, wird vielleicht eher zurückhaltend sein, in der Äusserung von Unmut. So jedenfalls der gesunde Menschenverstand.

Eine der interessantesten Ergebnisse der Studie ist jedoch, dass die virale Übertragung gerade in den virtuellen sozialen Netzwerken nicht funktioniert, die den Autoren als Modell ihres Ansatzes diente. „Kontakte“ via Facebook, LinkedIn oder StudiVZ besitzen in viel geringerem Masse jene ansteckende Qualität, die von wirklichen Begegnungen mit Menschen ausgehen.

„Vergessen Sie Netz-Netzwerke wie Facebook und Twitter. Virale Kraft haben Ihre Freunde aus Fleisch und Blut.“ (Das Magazin, 2010/15)

Damit bestätigt sich eine Vermutung: facebook verdankt seinen durchschlagenden Erfolg gerade seiner Fähigkeit, die virale, ansteckende Dimension von Begegnungen technisch zu simulieren und damit kontrollierbar zu machen. Die wenigen lebendigen Freundschaften, die wir über facebook pflegen, sind solche, mit denen wir auch sonst zu tun haben (wollen). Alle anderen heissen nur so: nämlich „frenz“.

http://dasmagazin.ch/index.php/machen-ihre-freunde-sie-dick/

http://www.nytimes.com/2009/10/04/books/review/Stossel-t.html?pagewanted=1&_r=1

http://www.connectedthebook.com/#